Mein Name ist John. Ich bin 28 Jahre alt und arbeite gerade als Bauarbeiter im Nebenjob bei einer Sanierung des C&A Store in Hannover. Ich bin seit einiger Zeit mit Lale zusammen. Wir kennen uns eigentlich schon recht lange aus Hamburg, wo wir beide studieren. Sie Zahnmedizin und ich irgendetwas mit Unbedeutendes. Als ich Lale kennenlernte war sie dabei ihre damalige Freundin zu heiraten. Die Heirat hat etwa ein paar Jahre angehalten. Ich weiss nicht, ob sich die beiden jemals haben scheiden lassen. Jedenfalls waren Lale und ich nun ein Paar. Sie hatte mir vor einiger Zeit erzählt, dass sie mich gerne mit nach M* zu ihren Eltern mitnehmen möchte, um mich ihnen vorzustellen. Ich bejahte und wir hatten uns verabredet, dass sie mich auf dem Weg von Hamburg kommend in Hannover abholen würde. Als das Datum näher rückte, wurden meine Zahnschmerzen, die ich seit einiger Zeit hatte, immer stärker und stärker. Ich rief sie an:
„Hi Lale, du meine Zahnschmerzen werden immer heftiger. Was meinst du, soll ich noch hier in Hannover zum Zahnarzt gehen?“ Sie: schishscsichjaudfhsajh, jein… ok? Ich: „okay, ja, das wird schon gehen. Morgen ist ja schon Freitag – Ja, gegen 12-13 Uhr sind wir hier fertig. Ich schicke Dir die Adresse per sms zu. Am besten, du hälst dann dort direkt – ja – da kann man kurz halten. ok. Also, ok. Bis morgen dann. Ich freue mich. Das wird schon…“
Man muss dazu sagen, dass Lale glaub sehr aufgeregt war. Die Sache mit ihrer damaligen Freundin. Ihre Eltern hatten, so hatte sie es mir mal erzählt, eh schon damit zu kämpfen, dass ihre Tochter lesbisch sei, dann aber gleich heiraten. Es hatte öfter mal gekracht. Bei ihr zu Hause. Besonders mit ihrem Vater, mit dem sie auf eine gewisse Weise unglücklich gleich in einem unendlichen Spannungskreis verharrte, gerade weil beide dann doch sensible Charakterzüge aufwiesen, die es nicht zuließen so hart zu sein, dass der Kontakt völlig abbrach. Aber eine Vater-Tochter Beziehung hat ja immer ihr Besonders, mehr noch, wenn der Vater zum einem eine strenge Teheranische Sozialisation der 50-60 Jahre erfahren hatte und zum anderen mit dem Bus alleine von Teheran nach Bonn gefahren ist, um festzustellen, dass die damalige Hauptstadt Deutschlands Bonn im Vergleich zu Teheran ein Vogelschiss auf der politischen, wie kulturellen Landkarte der Welt war und auch immer noch ist. Jedenfalls entkam er seinem strengem Vater, der jedem seiner 4 oder 5 Söhne schon mit 8 Jahren gesagt hatte, was sie mal werden würden und was sie dann auch alle wurden: Chirurg, General, Orthopäde, Rechtsanwalt und nochmals Arzt. Kurzum, eine Arztfamilie. Ob jetzt Lales Grossvater auch Arzt war, weiss ich nicht, es würde mich aber nicht wundern. Das Lale auch Ärztin werden würde, hatte sie wohl auch gewundert, obwohl sie mir sagte, dass sie wirklich schon immer einen Faible für den Zahnarztberuf hatte, nur die Schauspielerei und das Singen würden ihr noch mehr Freude bereiten.
Am Abend nach dem Tag am Bau holte ich mir noch schnell ein paar Schmerzmittel aus der Apotheke. Unser Hotel lag quasi gegenüber der Anlieferung von C&A. Dort tummelten sich Nachts Pinguine und wir hatten eine Stammbar, in der wir jeden Abend nach Feierabend ein paar Bier tranken und abundzu ein paar Pfeile Dart warfen. In meinem Mund vermischte sich am Freitagmorgen sich der Geschmack vom Bier mit dem verwesendem Zahn. Es war der hinterste links. Ein Backenzahn, der 7er. Dicker Brocken, und wenn ich Druck in der Mundhöhle aufbaute und diesen durch die Zahnlücke zwischen 7er und 6er zog, so kam er mir entgegen, der Geschmack von Karies. Karies heisst, der Zahn verfault. Und weil mein 7er sehr tief im Inneren faulte, schmeckte die Fäule noch stärker, und die Schmerzen die dieser Zahn mir bereitete, wurden immer stärker und stärker. Der Schnaps, ich glaube fast es war einer diesen Kräuterschnäpse, zusammen mit den Schmerzmitteln und dem Bier tat seine Wirkung und liess den Schmerz in der oberen Kieferhälfte etwas verklingen. Das Pochen in der Region und im Zahn selbst wurde aber nicht besser und hinterliess mehr Kopfschmerz, als freies Rauschen.
Die Nacht ging schnell um, am Donnerstag Abend wurde meistens mehr getrunken, in etwa so viel wie am Montag, es scheint sich das Gefühl unter den Bauarbeitern auszubreiten, dass man sich vermissen wird, obschon eher die Freude sich nach einem Wochenende daheim, am Montag so gross war, sich wiederzusehen, dass mehr Bier Floss, als am Donnerstag auf Montage. Nach ein paar Stunden Schlaf, ein paar Stunden Arbeit und zähem Mundgeruch holte mich Lale ab. Es standen noch einige Stunden Autofahrt an, die ich mir, ob meines Alkoholpegels, als auch wegen der Müdigkeit, wie nicht zuletzt wegen der krassen Zahnschmerzen, frei nahm, nicht zu fragen, ob ich fahren sollte, sondern mich meiner Müdigkeit und meinem Schmerz des Zahnes hingab, und mich von Lale über meinen Zahn befragen liess. Sie hatte noch eine Packung Schmerzmittel dabei und gab mir diese direkt nachdem ich ins Auto gestiegen war. Ich schlief ein, die Musik und der Ausblick der vorbeiziehenden Landschaft beruhigen mich, meinen Kater und meinen 7er.
Nach ein paar Stunden kamen wir an. Freitagnachmittag. Lale war nie sehr nervös, sie war eine der coolsten Frauen, die ich kannte. Wenn wir in Hamburg am Nachmittag nicht wussten, was zu tun war, machte sie den Vorschlag in eine Kneipe zu gehen und Dart zu spielen. Oder zu Kickern. Jetzt aber da wir vor dem Haus ihrer Eltern standen, merkte man ihr doch an, dass es keine einfache Situation für sie war. Sie war mit ihrer damaligen Freundin so mutig und stellte sie ihren Eltern als ihre Frau vor. Danach sprachen Vater und Tochter ein paar Monate nicht mehr miteinander. Diesmal war es aber ein Mann, zumindest diese Tatsache sollte das bevorstehende Essen entspannter werden lassen, als mit ihrer damaligen Ex. Zumal auch Lales Mutter mehr wusste und das dieser erste Männerbesuch, nachdem Lale bei ihren Eltern ausgezogen war, vielversprechend sein könnte. Die iranischen Männer mit den Jahrgängen 40′- 50′ waren nicht einfach. Viele von ihnen, als sie eigene Kinder bekamen, machten mit der Erziehungsmethode ihrer Eltern weiter, bauten Druck auf unter dem die Kinder zerbrechen konnten.
Wir traten in das Haus ein. Kein überdurchschnittlich opulentes Haus. Geschmackvolle Einrichtung, eine Mischung zwischen Orient und Bonn. Lale wurde herzlich begrüsst, sowie ich auch. Ich fühlte ich sofort wohl, obwohl der Zahn in mir immer wieder Unwohlsein hervorrief. Der Geschmack der Fäule liess meinen Magen schwach werden und ich hatte nicht wenig Lust gleich weiterzuschlafen, aber wie sich ein paar Meter weiter herausstellte, würde das nicht bald möglich sein. Denn im Wohn- Esszimmer warteten noch weitere Personen. Der Reihe nach: Erst Lales Vater, der mich fröhlich und zugleich kritisch begrüsst. Lales Mutter war die Seele des Hauses, die mich gleich umarmte. Danach der verkorkste Bruder (der jung Vater wurde). Ein netter Typ, mit der Idee beschäftigt, sich als Polizist zu bewerben. Dann ein weiterer Mann mit seiner Frau, alles Onkels. Ebenfalls Arzt, Innere. Noch ein Mann, ebenfalls Onkel. General a.D. kühler Typ, aber aufgeschlossen. Wir hatten etwas Zeit uns das Haus anzuschauen und Lale zeigte mir ihr ehemaliges Zimmer, in dem wir die kommende Nacht verbringen würden. Wir hatten auch etwas Zeit, die Lale gleich nutzen wollte, um uns zu entkleiden, aber so richtig – die Zahnfäule und der Schmerz meldete sich pünktlich – kamen wir, ich nicht in Fahrt. Aber wir hatten Zeit uns etwas auszuruhen, bevor wir zum Essen gerufen wurden. Ich hatte zwar Hunger, auch mit dem nachlassenden Kater vom Vorabend, aber der Zahn und das Pochen in der Wange hielten mich davon ab, zu sehr an das Essen zu denken, obwohl es herrlich duftete. Lale fragte mich, wie es mir ginge und ob es ok wäre zum Essen runter zu gehen. Es täte ihr Leid, sie wusste nicht, dass ihre halbe Verwandtschaft zum Essen kommen würden. Sie mochte ihre Onkel und gab mir eine Schmerztablette.
Auch wenn meine Nase durch den Vorabend verstopft und der pochende Zahn meinen Geschmacksinn etwas verzerrte, waren die Dufte, die vom runden Esstisch kamen unübertrefflich. Die persische Küche kannte ich nur sehr wenig, auch Lale hatte mir ein paar Kostproben ihrer geerbten Kochkünste gezeigt, aber der reich gedeckte Tisch liess meinen Magen erwachen und in mir Freude aufkommen. Inzwischen sassen alle am Tisch. Lales Mutter hatte mir ein Glas Wasser hingestellt und mich und Lale an unseren Platz gewiesen. in der Runde sass ich rechts neben dem Vater, links von mir Lale. Neben Lales Vater sass ihr Onkel, der ebenfalls Mediziner war. An die restliche Sitzunordnung erinnere ich mich nicht. Es kann sein, dass Lales Mutter neben ihr sass, aber in meiner Erinnerung war sie vielmehr damit beschäftigt, sich um die Speisen und die Gäste zu kümmern. Lales Vaters tat dies auch, aber sitzend und unterhaltend. Kleine Schalen standen auf dem Tisch und langsam wurden mir die Speisen gereicht. Am meisten erinnere ich mich an Torshi, ein in Essig-Salz eingelegtes Gemüse, welches mir beim kauen den gesamten Speichel meiner Speicheldrüsen auf einmal in den Mund schiessen liess. Ein herrliches Gefühl und es tat dem Zahn eigentlich ganz gut. Auch die weiteren Gerichte bereiteten mir Freude, weil mein leerer Magen sich zu füllen begann. Jedoch spürte ich die Fäule immer wieder aus dem Zahn aufsteigen, die Säuren, Salze und Fette des Essens hämmerten immer stärker in den faulen Zahn und die offenliegenden Nerven meines linken Oberkiefers.
Wir kamen ins Gespräch, Lales Vater fragte Lale nach dem Stand ihres Zahnmedizinstudiums aus und liess keinen Zweifel aufkommen, dass Medizin ein Fach ist, dasss auf Erfahrung beruht, die Lale erst noch sammeln müsste. Ein Machtdemonstrationsgespräch begann, wieder mal, wie immer eigentlich zwischen den beiden, wenn sie aufeinander trafen. Natürlich war nun auch ich in das Gespräch eingebunden, mit der einführenden Frage nach meiner Tätigkeit, deren Beantwortung meinem faulem Zahn gar nicht schmeckte, denn ich ich sah schon zu Beginn, dass ich zwar einigermassen akzeptiert, aber dennoch nicht für ganz ernst genommen wurde. Vielleicht kreierten wir beide, Lale und ich, oder vielmehr ich in meinem desolatem Zustand ein Bild der Verwüstung. Ich wusste nicht genau wie ich zu diesem Zeitpunkt ausgesehen haben mag, aber ich denke, es war nicht der Eindruck von einem Medizinstudenten im Abschlusssemester.
„John, richtig?“ fragte mich Lales Vater. „ja, genau John“erwiderte ich. „Was ist das für ein Name, wo kommt er her?“ Ich erzählte die ganz Geschichte meiner Herkunft und wie man den Namen richtig aussprechen würde, bis die Frage nach meinem Beruf fiel. Als ich entgegnete, Bibliothekar, war ein Ausdruck von etwas Respekt zu finden, aber bei der zweiten Frage, was genau ich dort mache, wich der respektvolle Ausdruck und sagte sich innerlich. „Okay, zumindest kein Versicherungsmakler“, wobei ich das Gefühl hatte, dass ich soweit ich eine gute, gehobene Position gehabt hätte, es okay gewesen wäre. Hauptsache eben kein kleiner Fisch, einer der der Tochter nichts bieten kann. Mein Zahn tat komischerweise in dieser Konversation wieder mehr weh und so schien ihm der kurze Dialog mit mir gereicht zu haben und wandte sich wieder seiner Tochter zu. „Lale, wie sieht es auch mit Studium, hast Du die XXX Prüfung bestanden?“ Lale: “ ja, klar. schon letztes Semester…“ Lale und ihr Vater Fachsimpelten vor sich hin und immer wieder bemerket ich, dass sich Wogen hochkochten. Ihr Vater musste immer das letzte Wort haben, bevor ich sie unterbrechen musste. Gerade hatte ich etwas von dem Persischen Reis gegessen, den mir Lales Mutter auf den Teller serviert hatte. In der untersten Schicht wurde der Reis sehr knusprig, denn es wurde ganz unten eine Schicht Kartoffeln angebraten, die sehr knusprig wird. Das Streitgespräch und die vielen Fremdwörter verschwirrten meinen Kopf noch mehr, die Luft wurde dünner, bis mich der Vater fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich musste gar nicht mehr antworten, Lale antwortete: “ Wahrscheinlich eine Pulpites am 17er“.
Das war der Moment, an den ich wieder als Person wahrgenommen wurde, allerdings nicht als Mensch, sondern als Anschauungsobjekt. Sofort harkte der Vater nach, wie Lale darauf käme und die Diagnose flog zurück. Der Onkel fragte zwischen immer wieder nach den Namen der betroffenen Nervenbahnen und stellte noch weitere blöde Fragen. Ihm machte dieses Spiel scheinbar Spass. Die alte Konkurrenz der Brüder flammte wieder auf und ein Wettbewerb, um die richtige Diagnose entfachte, ich nicht mehr konnte. Ich musste den Tisch verlassen und mich hinlegen, die Medikation wurde ja bereits erstellt und der Giftschrank mit Antibiotika und deftigen Schmerzmitteln wurde geöffnet. Mein Abend in M. war damit vorbei, ich schlief sofort ein nachdem die Schmerzmitteln zu wirken begannen. Irgendwann kam Lale ins Zimmer, schlüpfte unter die Decke und schlief das erste Mal unter dem Dach ihres Vaters mit einem Mann. Vielleicht waren es die Medikamente, aber ihr stöhnen kam mir lauter vor, als zuvor. Das Schlafzimmer ihrer Eltern lag direkt unter uns.
Am nächsten Morgen ging es mir erstaunlich gut. Die Stimmung war schön, es gab ein Frühstück, dass locker gegessen wurde. Es gab Café und eine frische Dusche. Der Mief der Montagewoche war passé und durch die Medikamente, die ich zum Frühstück einnahm, halfen mir mich wohl zu fühlen. Lale kam irgendwann zu mir, während ich mich mit ihrer Cousine unterhielt, die echt lustig war. „John, mein Vater hat einen Freund, der Zahnarzt ist, der jetzt am Morgen noch in die Praxis kommt, um deinen Zahn anzuschauen, die Entzündung muss zumindest geöffnet werden“. Wir fahren meinem Vater hinterher, danach gegen wir noch zum Golfclub…“.
Zahnarztstuhl, ich liege drin. 8 Augen über mir. „Lale, ah so weit bist du schon im Studium. Super, dann attestierst Du mir jetzt. Ein langer Monolog mit klugen medizinischen Einwürfen von Vater und Onkel. Lale sagte eigentlich nur ab und zu „ja“ „okay“ mhm“. Sie konnte sich unglaublich gut fokussieren. Mein 17 wurde aufgebohrt, mit Clorhexamed oder wie es heisst ausgespült und offen gelassen. Ich hatte nun ein grosses Loch in der 17. Und es fühlte sich super an. Endlich wieder ein lebendiger Mensch.
Wir fuhren zum Golfclub, der unbekannter Zahnarztfreund kam mit, wir gingen zunächst zum Abschlag-Platz. Links neben uns die Eltern in Golfmontur, rechts der Onkel plus Anhang. Der Bruder hing gelangweilt in dem kleinem Sitzplatz hinter uns. Der Zahnarzt ein paar Meter weiter. Ich – John – kann kein Golf spielen, aber John hat vor ein paar Semestern bei einem Auslandspraktikum fast täglich in einer Driving-Range verbracht, weil es eine schöne Beschäftigung war, dort mit seinem Kumpel abzuhängen, Bier zu trinken und Abschläge zu üben.
Lale: “ Du bist an der Reihe“. Die Eltern schauten aufmerksam, aber sehr diskret zu mir rüber. Ich nahm den Driver, legte mir den Ball zurecht, nahm Position ein, schön parallel zum Ball. Schaute auf das Feld mit den Markierungen, zog voll durch mit guter Haltung, der Ball flog. Er flog sehr weit und er flog an die richtige Stelle. Alle haben mir zugeschaut, Lale schaute mich mit einer Mischung aus Stolz und Begierde an. Es war nun schon Mittag, wir assen etwas im Clubrestaurant. Dann sagte Lales Vater zu ihr, er hätte noch etwas für sie, bevor wir losfahren würden. Wir gingen alle vor die Tür, ein schwarzer 3er BMW fuhr vor, Lales Bruder sass drin, stieg aus uns gab den Schlüssel Lale. „Den Wagen möchte ich Dir gerne schenken Lale, weil du dein Studium. so gut machst“ sagte der Vater. “ Und dein Freund hier, er soll unbedingt am Montag zu seinem Zahnarzt gehen. Oder Du kannst es direkt an der Uniklinik machen. Er soll einfach vorher viel Torschi essen.“